Digitalagentur
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Interview mit Karl-Heinz Land: „Die Beobachterrolle ist gefährlich“

Karl-Heinz Land ist digitaler Evangelist und Darwinist. Er fährt gerne Oldtimer und schreibt mit an radikalen Büchern wie „Dematerialisierung – Die Neuverteilung der Welt in Zeiten des digitalen Darwinismus“. KNOW!S traf Karl-Heinz Land, den Mann, der links eine Apple Watch und rechts ein mechanisches Präzisionsinstrument trägt, in seinem Kölner Neuland Büro. Ein Gespräch über eine sich radikal verändernde Welt.

Hinweis der Redaktion: Die Langfassung des Interviews ist noch in der Abstimmung und folgt bis Mittwoch 23.9.2015

Wo stehen wir mit Blick auf die Digitalisierung in Deutschland?

Karl-Heinz Land: Im Vergleich zu den USA ist Europa noch ziemlich weit hinten an. Der Grund:  Wir sind nicht so nah an der Software wie die Amerikaner oder auch viele andere Länder, wie die Israelis oder Chinesen. Wir denken immer noch in Maschinenbau, in Anlagen oder in Automobilen. Das Auto ist ein gutes Beispiel, um zu verstehen, was Apple oder Google mit Android machen. Sie erobern langsam das Auto. Aber was das eigentlich bedeutet, ob irgendwann später das Auto das nächste Smartphone ist, ob es dann noch von uns gebaut wird, das ist eine andere Frage.

Speziell der Mittelstand in Deutschland guckt noch sehr stark zu. Er  befindet sich in einer Beobachterrolle, und das ist sehr gefährlich, weil die Entwicklung so rasant verläuft. Ich glaube, wir müssen aus dieser Beobachterrolle raus kommen. Nur um zwei Zahlen zu nennen: Die Unternehmensberatung Gartner geht davon aus, dass 2020 rund 30 bis 50 Milliarden Dinge im Internet miteinander sprechen werden. Daraus werden 1,9 Billionen Dollar an Wertschöpfung entstehen. 80 Prozent davon werden aber Services, Software und keine Produkte mehr im herkömmlichen Sinne sein. Das ist natürlich eine radikale Veränderung. Allein in Deutschland vermutet man, dass wir 50 Milliarden Euro an Wertschöpfung im Jahr verlieren, weil der Mittelstand seine Chancen nicht wahrnimmt.

Sie sagen, alles was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert. Gilt das für alle Branchen?

Wenn Dinge erst einmal digitalisiert sind, benötige ich sie nicht mehr als physisches Produkt. Nehmen Sie den Schlüssel oder Geld. Sind diese ein Stück Software – eine App – auf dem Smartphone mit der ich bezahle, mein Auto oder meine Haustür öffne, dann muss ich den Schlüssel oder auch das Geld nicht mehr herstellen. Das heißt aber im Klartext: Wenn ich das physische Produkt nicht mehr benötige, muss ich auch nicht mehr die Maschine herstellen, mit der dieses produziert wird. Und es gibt weitere Folgen: Ich brauche keine Logistik mehr, die das Rohmaterial heranschafft, Verpackungen produziert und das Endprodukt distribuiert. Die ganze Wertschöpfungskette geht verloren.

Wenn jetzt der Schlüssel einmal digital vorliegt, dann gehen die Grenzkosten auf Null. Das heißt, wenn ich einen Schlüssel normalerweise produziere, kostet der mich in der Herstellung etwa 5 Euro. Wenn ich den jetzt 1.000 mal verschenken wollte, würde mich das 5.000 Euro kosten. Wenn ich den Schlüssel aber einmal digital habe, dann kann ich den 100 Millionen mal verschenken, das kostet mich nichts mehr, weil die Grenzkosten gegen null gehen.

Wenn etwas erst einmal digitalisiert ist, kann ich es auch automatisieren. Das beste Beispiel, das uns nicht immer sofort in den Kopf kommt, ist das Auto. Wenn das Auto auf das Digitale trifft, dann haben wir ein selbstfahrendes Auto, weil ich es jetzt automatisieren kann. Und so kann ich jeden Geschäftsprozess automatisieren, wenn er erst einmal digital vorliegt. Ein Beispiel ist Banking. Denken Sie mal an früher, da mussten wir überweisen. Da sind wir in die Bank gegangen, haben ein Formular ausgefüllt und der Mann hinter dem Schalter hat das gegengezeichnet, kontrolliert und uns wieder nach Hause geschickt. Heute beim Online-Banking ist das voll automatisiert. Einen Teil des Services übernimmt sogar der Kunde.

Wie schnell wird sich die Digitalisierung selbst noch einmal verändern?

Meine These ist: es wird sehr viel schneller kommen, als wir das befürchten oder erhoffen. Wir denken immer linear: 1 und 1 macht 2 und 1 macht 3 usw. Die Computerwelt ist aber nicht linear. Die funktioniert exponentiell. Das sieht man beispielsweise an der Einführung des Fernsehers. Vom ersten Fernseher bis zum weltweit 50. Millionsten Fernseher hat es 38 Jahre gedauert. Whatsapp hatte 50 Millionen Benutzer nach 18 Monaten. Das ist Exponentialität und wir können dies nicht begreifen.

Wir können dieses unglaubliche Ansteigen von Benutzerzahlen überhaupt nicht verstehen. Und deshalb befürchte ich, dass das alles viel schneller und radikaler kommt, als wir denken. Die Automobilindustrie hat noch überhaupt nicht verstanden, wie sehr das selbstfahrende Auto den kompletten Markt verändern wird.

Aber Automobilhersteller testen doch schon Selbstfahrer in San Francisco und berichten in toll gestalteten Magazinen darüber. Reicht das nicht aus?

Ja, das tun die. Aber die beschäftigen sich noch nicht mit der Radikalität der Auswirkungen. Wenn das Auto einmal autonom fährt, gleichzeitig die Urbanisierung zunimmt und die share economy, also mehr Menschen Carsharing-Mobilitätsangebote nutzen, dann wird es immense Verschiebungen geben. Heute haben wir 43 Millionen zugelassene Autos auf deutschen Straßen. Die These in meinem Buch lautet: In zehn bis 15 Jahren werden wir vielleicht noch 12 bis 15 Millionen Autos haben.

Über 30 Prozent der deutschen Wirtschaft hängt direkt vom Auto ab. Wenn ich jetzt nur noch ein Drittel baue, kann man sich ausrechnen, was dies für Hersteller und Zulieferer bedeutet. Wenn Sie ein Auto privat nutzen, nutzen Sie dieses zu maximal fünf bis sechs Prozent. Den Rest der Zeit steht es im Carport oder auf der Straße. Wir haben ausgerechnet, dass das gesharte Auto 10.000 Prozent häufiger in Betrieb ist. Das heißt, wir brauchen vielleicht nur noch jedes  20. Auto. Wir haben darüber gesprochen, was es bedeutet, wenn wir nur noch jedes dritte Auto benötigen, da will man über die andere Quote gar nicht nachdenken.  Es geht im Mittelstand nicht um die Digitalisierung der Produktion, die ist ja in vielen Bereichen schon automatisiert. Sie sagen  der Unternehmer muss eigentlich über seine eigene Wertschöpfungskette hinaus denken…

Viele reden heute über Industrie 4.0 und ich sage: „Industrie 4.0“ ist der falsche Begriff. Wir müssen es „Wirtschaft 4.0“ nennen. Es fängt ja eigentlich beim Rohstoff und Material an, geht über die Logistik, dann kommt die Produktion, da habe ich Sensoren und Maschinen, die miteinander kommunizieren. Und dann gibt es noch einen Marketing-, Vertriebs- und Logistik-Prozess, der bis zum Endkunden führt. Weil letztendlich landet ja alles, was wir tun, irgendwann bei einem Konsumenten, der das benutzt. Wir müssen uns klar machen, heute leben sehr viele Mittelständler in der Welt davon, dass sie B2B arbeiten. Also große Sanitärhersteller, Elektrohersteller, die verkaufen an den Handel und der Handel an den Konsumenten. Das sind dreistufige Vertriebsmodelle. Die Digitalisierung führt aber dazu, dass immer mehr Unternehmen in zweistufigen Modellen arbeiten werden. Der Intermediate, der Mittelsmann, der Makler in der Versicherung, in der Musikindustrie der Verteiler der CDs, der fällt weg. Auf einmal greifst du auf die Musikdatei bei apple, bei  spotify direkt zu. Das führt dazu, dass sich die Wertschöpfung verschiebt. Unternehmen müssen sich über Endkunden Gedanken  machen, e-Shops aufsetzen, die auch noch gut für die Marge sind. Aber es ist natürlich schlecht für den Zwischenhandel, weil der einfach in dem Spiel verloren geht.

Das Problem dabei ist, dass sich auch für die Hidden Champions aus dem Mittelstand die Welt dramatisch ändern wird:
a) weil der Mittelsmann verloren geht.
b) bedeutet Digitales auch immer Transparenz: Preistransparenz, Produkttransparenz, Featuretransparenz. Wenn das Produkt einmal im Internet ist – auch wenn Sie B2B arbeiten – ihre Produkte also auf einmal bei amazon auftauchen und dort vertrieben werden, dann beginnt das Spiel. Und dann können Sie nicht einfach sagen, ich will das nicht. Das können sie nicht verhindern. Irgendwer wird Ihre Produkte dann auch über amazon und ebay vermarkten, was natürlich Auswirkungen auf den Preis haben wird und dann werden die anderen Kunden sagen, warum kostet es dort so viel und bei dir mehr. Dann geht das Spiel los.

Der Mittelständler muss also näher an den Endkunden?

Ja, wir müssen die gesamte Wertschöpfung betrachten und letztendlich in Kundennutzen denken. Wir sagen, drei Bereiche sind für die digitale Transformation der Unternehmen wesentlich: Der erste Bereich ist die Customer Experience. Habe ich eine Webseite mit e-Commerce, habe ich eine App, unterstütze ich meinen Kunden bei all seinen Aktivitäten, angefangen bei der Installation. Der zweite Bereich der Transformation betrifft die Produkte und Services als solches. Also muss ich nur einen Sensor an mein Produkt machen, um es besser zu machen, oder wird, wie beim Schlüssel, mein Produkt komplett verschwinden. Wenn ich heute Schlüssel produziere und in Zukunft der Schlüssel aber ein Handy ist, dann muss ich die ganze Prozesskette neu denken. Das ist natürlich ein radikaler Wandel, der aber auch neue Optionen zulässt. Also zum Beispiel mehr Service verkaufen. Den dritten Bereich nennen wir interne Effizienz oder Unternehmen 3.0. Da geht es darum, wie ich meine Prozessketten intern verbessern – also durch Digitalisierung höhere Wertschöpfung generieren, automatisieren, bessere Zusammenarbeit, Kooperationen usw. erschließen kann.

Unternehmen müssen verstehen, dass sie drei Transformationsbereiche vor sich haben. Und wenn man das nicht versteht oder diese miteinander vermischt, verschließt man sich dem digitalen Wandel. Wer sehr gut auf der Effizienz-Schiene, aber schlecht auf der Produkt- und Service-Schiene unterwegs war und ist, muss sich ändern. Als Beispiel: Industrie hatte früher nie etwas mit dem Endkunden zu tun. Nehmen Sie Klöckner Stahl. Was hatten die mit dem Konsument, der einen Stahlträger in sein Haus einbaut, zu tun? Bislang nichts. Heute ist diese Beziehung relevant.

Sie postulieren das „Ich-alles-sofort-und-überall-Prinzip“. Können Sie das kurz erläutern?

Der Konsument von heute ist zu einem sehr fordernden Subjekt/Objekt geworden. Der will nicht mehr warten. Und deswegen haben wir dieses „Ich-alles-sofort-und-überall-Prinzip“ erfunden. Ich will korrekt angesprochen werden, ich will personalisierte, maßgeschneiderte Offerten. Und wenn Sie mal genau hinsehen: das passiert ja heute schon. Turnschuhe lasse ich für mich exklusiv produzieren, nur aus dem Material, aus dem ich sie haben möchte. Und dann ziehe ich zum Schluss noch mein Instagram-Foto drauf und dann gibt es diesen Turnschuh genau nur einmal weltweit. Diese Art von Personalisierung, von Anspruchsdenken, die hat der moderne Konsument.

Und überall und sofort: Fragen Sie mal Ihre Kinder. Wer will denn heute noch warten. Mein Vater fuhr immer einen 200er Mercedes, der wartete drei Jahre von der Bestellung bis zur Lieferung. Da würden sich Ihre Kinder vor Lachen auf der Couch räkeln. Das kann keiner mehr nachvollziehen. Das heißt, wir sind zu einer Instant Society geworden. Wenn wir wissen wollen wie der Aktienkurs steht, dann schauen wir auf unser Handy und haben den Realtimekurs. Wenn wir wissen wollen wie das Wetter wird, dann gucken wir auf unser Handy und haben das im Livestream, da sehe ich die Wolken an der Stadt vorbeiziehen. Wenn ich wissen möchte, was läuft heute im Kino, dann gucke ich auf mein Handy und kriege das sofort.

Ganz offen: Den technologischen Wandel, den hat es ja immer schon gegeben. Seit der Erfindung von Feuer und  Rad hat es Veränderungen gegeben. Das Problem heute ist die Geschwindigkeit, in der der Wandel stattfindet. Dass Menschen im Prinzip noch vor drei Jahren ein Telefonbuch benutzt haben und heute nicht mehr. Früher gab es eine Benachrichtigung und dann konnten Sie ihr Telefonbuch abholen. Heute schmeißt man Ihnen das in den Flur oder im Bahnhof auf Paletten, damit Sie es doch bitte mitnehmen mögen. Das braucht kein Mensch mehr. Wer das nicht versteht – deshalb finden wir das immer noch so relevant und wichtig – der wird vermutlich ein böses Erwachen erleben.

Mehr digitaler Kundennutzen wirft auch immer die Frage nach dem Datenschutz auf. Sie haben fünf goldene Regeln entwickelt. Wie sehen diese aus?

Zwei Kernthesen. Erstens: Wenn jetzt alles digital ist, der Schlüssel, das Geld, die Kreditkarte usw., dann hinterlässt das alles digitale Spuren. Digitale Spuren, die ich nutzen kann, um dem Kunden einen besseren Service zu bieten. Weil, wenn ich weiß, wo der ist, und was der gerade macht, und wonach der gestern gesucht hat, kann ich ihm heute einen Hinweis geben, wie er sein Leben besser und leichter gestalten kann. Sagen wir mal der mobile Butler dazu. Es entstehen unglaublich viele Daten.

Viele reden da über Big Data, Smart Data oder was auch immer. In Deutschland haben wir eine gewisse Daten-Paranoia. Unternehmen wollen gar nicht so viele Daten, weil sie selbst befürchten, dass mit diesen Schindluder getrieben werden könne. Offen gesagt, es ist auch sehr unterschiedlich, wie das Unternehmen nach den Daten fragt. Nehmen Sie WhatsApp oder die Dropbox. Jeder weiß, hier sind die Daten nicht sonderlich sicher und dennoch nutzt sie jeder.

Was für uns in Deutschland schlecht ist, ist wenn wir das Spiel den Amerikanern überlassen. Weil die Googles, die Apples, die Facebooks leben von Daten. Was machen die denn anderes als Wertschöpfung aus Daten. Die machen daraus Werbung, die wir kaufen und bezahlen, um Angebote für uns herzustellen. Das ist natürlich total bescheuert. Wir müssen selber zu Daten-Protagonisten werden, wir müssen selber zu Daten-Sammlern werden und zwar unter dem Aspekt: Lieber Kunde, ich will dir ehrlich einen besseren Service geben.

Zurück zum Butler: Nur wenn ich Sie kenne, wenn ich weiß, was Sie wollen, kann ich Ihnen natürlich einen optimalen Service bieten. Ich bringe immer das Beispiel: Stellen Sie sich mal vor, Sie hätten einen Butler und im siebten Jahr fragt der Sie morgens: Wollen Sie Kaffee oder Tee oder wollen Sie Milch oder Zucker drin haben? Da würden Sie denken: Oh Gott, jetzt hat er Gedächtnisverlust. Passiert Ihnen aber bei Ihrem Einzelhändler jeden Tag. Der erinnert sich nicht an Sie. Wie blöd. Die könnten Ihnen einen viel besseren Service bieten, wenn die Sie kennen würden. Insofern müssen wir Daten sammeln. Das müssen wir aber unter fünf Aspekten tun:
Erstens: Das geht aus meiner Sicht nur mit unbedingter Genehmigung, also permission based. Wenn der Kunde „Nein“ sagt, keine Daten. Das Zweite ist Transparenz: Wir müssen dem Kunden sagen, wofür brauchen wir die Daten, wofür werden wir sie benutzen, aber auch wofür nicht. Ich werde sie nicht verkaufen und ich werde dir nicht jeden Tag 500 Emails schicken und dich zuspammen. Das Dritte: Es muss verhältnismäßig sein, also ich darf Sie nicht nach all Ihren Daten fragen bis hin zur PIN-Nummer der Kreditkarte, und dann kriegen Sie vielleicht mal ein lauwarmes Glas Milch dafür. Das ist unverhältnismäßig. Sie müssen einen Nutzen haben – einen besseren Preis, einen besseren Service. Das Vierte: Die Daten müssen sicher sein.

Wenn Sie mir Ihre Daten geben, dann lege ich die quasi in Fort Knox. Dann darf es nicht passieren, wie schon bei Unternehmen vorgekommen, dass auf einmal 30 Millionen Datensätze gehackt werden. Das heißt, ich bin jetzt verantwortlich für Ihre Daten, und der Verantwortung muss ich mich auch stellen.

Und das Fünfte ist Umkehrbarkeit. Wenn Sie morgen sagen: Du hattest jetzt zwei Jahre meine Daten, aber du hast mir eigentlich keinen Mehrwert geboten. Du hast mich zugespammt, weil du mir doch jeden Tag eine Email geschickt hast. Ich möchte diesen Service nicht mehr. Dann legen Sie den Schalter als Konsument um und, dann muss das Unternehmen das bedingungslos akzeptieren. Und diese fünf Regeln, die müssen wir in die Köpfe der Unternehmen bringen. Diese Diskussion habe ich mit dem ChaosComputerClub, mit dem Bereichsvorstand von großen Telekoms geführt und mit Versicherungen. Unter diesen Aspekten sagt jeder Datenschutzbeauftragte: Dann ist das ok, weil es transparent ist. Und das müssen wir in Zukunft bei uns, den Produkten und bei dem, was wir sammeln, einfach berücksichtigen.

Muss man das gesetzlich regeln?

Ich glaube das nicht. Wir müssen ja sehen, wir gehen in das Zeitalter des Konsumenten. Letztendlich ist es der Konsument, der am Drücker ist, in dieser neuen Welt. Das heißt eigentlich Demokratisierung von Medienmacht, was da im Moment passiert. Eine Arianne Huffington hat es als Single Woman geschafft, ein Medien Imperium aufzubauen, was Rupert Murdoch nicht nachstehen müsste. Das zeigt aber auch, jeder Konsument kann viel Reichweite haben. Und das ist gut. Das heißt, Vertrauen wird in dieser neuen Welt zu einer wichtigen Währung werden.

Sprechen wir über Neuland. Sie haben einen Digital Readiness Index entwickelt?

Wir vermessen Unternehmen. Wir machen das auf drei Arten und Weisen. Wir haben den Digital Readiness Index, da vermessen wir Unternehmen von außen nach innen nur aufgrund dessen, was wir finden, also Internet, Apps oder haben die einen e-Commerce shop. Wir erproben die digitale Reife von außen, das, was Ihre Kunden, Händler oder Konsumenten sehen. Dann haben wir den Digital Transformation Index. Da gehen wir hin und interviewen durch das ganze Unternehmen die Mitarbeiter. Da kommt es vor, dass zum Beispiel der IT-Leiter sagt: Wir haben eine Bomben-Digitalstrategie. Und der Vertriebsmann sagt: Digitalstrategie, habe ich noch nie was von gehört. Nur wenn ich weiß, wo ich stehe, kann ich auch etwas tun.

Und vor allen Dingen was vielen Unternehmen sehr hilft, ist, wir stellen das grafisch in einem Index dar. Und da stellen wir nicht nur Ihr Unternehmen dar, sondern auch, wo die anderen stehen. Wenn ein Unternehmen etwa 13 von 350 möglichen Punkten hat, wie beispielsweise Praktiker im Handelsindex, dann ist das schlecht. Die sind jetzt pleite. Das heißt die digitale Reife hat etwas mit Geschäftserfolg zu tun und wir können das punktgenau zeigen.

Sie sagen, das ist eine Top-Management-Aufgabe. Kann es auch bedeuten, dass ich mein althergebrachtes Geschäftsmodell ad acta legen muss? Wie gestalte ich den Prozess?

Wir haben ja zu Beginn gesagt, der Wandel geht eigentlich vom Konsumenten aus. Ich muss mir also überlegen, was will mein Kunde in Zukunft? Will der den physischen Schlüssel oder will der lieber einen QR-Code auf dem Handy und damit die Tür aufmachen. Wenn ich das verstanden habe, dann geht es nur noch darum, wie ich den Kunden glücklich machen kann.

Nehmen wir das Beispiel airbnb. Was hindert denn Hotels Airbnb mitanzubieten? Das airbnb-Modell gibt es seit 30 Jahren in Hannover. Ganze Familien haben ihre Häuser finanziert nur über die Vermietung während der cebit. Da soll mir keiner sagen, dass es das Modell nicht schon gab. Das hat Airbnb nur perfektioniert und globalisiert. Es gibt aber kein Hotel mit einem Service, bei dem ich in Spitzenzeiten private Wohnungen mieten kann. Ich wundere mich darüber, dass keiner der Hoteliers gesagt hat: gute Idee, machen wir auch.

Da sind wir dann an dem Punkt, an dem es um Denkstrukturen geht. Der Hilton-Manager sitzt da und sagt, ich bin so groß …

… und es wird schon nicht so schlimm werden. Online-Handel gibt es gar nicht. Vor 18 Jahren begann amazon. Wir sitzen aus diesem Grund im Kölner Startplatz mit 60 Startups zusammen. Die Großen können von den Startups lernen. Wir haben eine Digital Business Factory und einen Digital Business Accelerator aufgemacht. Das heißt, wir haben hier Räume. Unsere Kunden, große Energiekonzerne, eine große Parfümeriekette, Einzelhändler, bringen fünf, sieben und manchmal zehn Leute für drei, sechs Monate zu uns.

Wir coachen diese durch den Prozess so lange, bis wir ein valides Geschäftsmodell haben. Wir haben ja den Digital Readiness Index vorher mit dem Unternehmen gemacht, d.h. wir wissen, wo sie stehen, wo andere stehen. Wir gucken nach best practice und zwar weltweit. Denn, warum muss die gute Idee aus Deutschland kommen? Vielleicht kommt die ja gerade aus Japan, Korea oder aus Amerika. Wir betrachten diese Idee von allen Seiten, modellieren das Geschäftsmodell und zum Schluss wird entschieden, ob wir diese Idee zurück in das bestehende Unternehmen inkubieren.

Wie wichtig ist das Scheitern?

Wir in Deutschland tendieren ja schon bei der Ideenfindung zu 120 Prozent. Nur wenn alles minutiös abgesichert ist, dann setzen wir um und darüber wird vorher drei Jahre lang sinniert. Dann ist die Idee halt kaputt, bevor sie in den Markt kommt. Wir müssen uns an agile Methoden gewöhnen. Viele Unternehmen sagen: fail, but fail fast. Schnell scheitern, lernen, weitermachen und nicht aufgeben. Auch die großen wie Google, Apple, Facebook sind alle zig Mal gescheitert, aber sie haben nicht aufgegeben.

Die alten Unternehmen, etwa der Schlüssel-Hersteller oder der Energiekon-zern, sind gut im Skalieren. Die können mal eben eine halbe Million Rechnungen schreiben, das ist für die gar kein Problem. Das wär für das Startup aber ein Problem. Manchmal stellen wir aber auch fest, wir implementieren die Idee nicht zurück, weil das kannibalisiert den Markt des alten Unternehmens. Dann gründen wir die Idee als eigenständiges Unternehmens aus, und vielleicht ist das der Angreifer für mein eigenes Unternehmen. Aber besser ich werde von mir angegriffen, und ich übernehme diesen neuen Markt, als von einem Fremden.

Kodak war einmal Weltmarktführer mit 128.000 Mitarbeitern und 90 Prozent Marktanteil. Die haben die Digitalfotografie erfunden, hatten aber so viel Angst vor ihrer eigenen Innovation, dass sie gesagt haben, wir machen 16 Jahre lang kein Produkt daraus. Und dann waren sie pleite. CeweColor ist ein gutes Beispiel. Die waren eines der größten Fotolabore in Deutschland für Kodak, und die haben den Trend erkannt und gesagt: Oh, die Leute wollen digital, was machen wir? Die Leute wollen die Fotos zum Schluss aber noch sehen. Also machen wir Fotobücher, und die sind heute Marktführer bei Fotobüchern und machen mehr Umsatz, haben mehr Gewinn, mehr Mitarbeiter als vor der Revolution.

Sie haben aber auch noch ein analoges Leben?

Ja, ich fahre sehr gerne Oldtimer und trage neben meiner Apple Watch auch immer eine mechanische Uhr. Mich fasziniert diese Präzision mit der diese Uhren geschaffen werden und laufen. Um nur zwei Beispiele zu nennen.

Dematerialisierung –
Die Neuverteilung der Welt in Zeiten des digitalen Darwinismus
Ralf T. Kreutzer & Karl-Heinz Land
ISBN 978-3-9817268-0-0
2015
Future Vision Press

 
 

Marion Pape
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Foto: Rainer Holz