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„Die Zukunft fängt gerade erst richtig an“

Die Gegenwart wandelt sich rasend schnell — und auf die nahe Zukunft scheint so gar kein Verlass mehr. Was das mit unserer Psyche macht, untersucht der Soziologe Prof. Dr. Thomas Druyen. Der Zukunftsforscher hat an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien das erste Institut für Zukunftspsychologie gegründet.

Bei dem Wort Zukunft denkt man zwangsläufig an Veränderung, aber auch an die Angst davor. Zukunftsangst. Warum?

Angst vor der Zukunft ist bei vielen ein reflexartiges Muster, denn Zukunft bedeutet zwangsläufig Veränderung. Und die wollen viele einfach nicht. Sie ist unbequem. Fast alle Menschen neigen dazu, sich erst zu verändern, wenn ein akuter Anlass, ein Veränderungsgrund eingetreten ist. Das sind oftmals Krankheit, Jobverlust, Beziehungsprobleme oder psychische Belastungen. Gesünder zu leben, kontinuierlich Sport zu treiben, sich weiterzubilden oder neue Technologien anzunehmen: All das tun wir meistens nur im Notfall — und wenn es oftmals schon zu spät ist. Diese Lebenshaltung können wir uns absolut nicht mehr leisten. Neue Entwicklungen in Technik und Gesellschaft fliegen über uns hinweg, ohne dass wir sie wirklich begreifen können. Das müssen wir ändern. Darin liegt die Aufgabe der Zukunftspsychologie.

Sie propagieren seit Jahren, dass Zukunft trainierbar ist …

Durch eine von uns erfundene Interviewtechnik, die sich ausnahmslos mit Fantasie, Imagination und möglichen Lebensereignissen beschäftigt, trainieren wir die Leute dazu, mit Überraschungen, Unvorhersehbarkeit und mit radikaler Veränderung umgehen zu lernen. Wenn man so will, hilft die Zukunftspsychologie, durch gedanklich gemachte Erfahrungen besser und schneller in der Zukunft zu navigieren und entsprechende Entscheidungen präventiv zu treffen!

Wie genau funktioniert das?

Wir können unseren Kopf dazu nutzen, um mögliche Bedrohungen wie Freundschafts-, Arbeits- oder Partnerverlust gedanklich durchzuspielen. Diese Übungen helfen uns, um auf Veränderungen zu reagieren — weil wir sie damit schon kennen. Ich bezeichne die Übungen als Probehandlungen. Nicht daran zu scheitern, heißt auch, pro-aktiv zu sein. Diese Lebenseinstellung wird in der Zukunft von immenser Bedeutung sein.

Auf welche grundlegenden Herausforderungen sollten wir uns Ihrer Meinung nach gedanklich vorbereiten?

Noch nie in der Geschichte der Menschheit war der Wandel so radikal wie heute. Über Jahrhunderte ahnten wir die Struktur unserer Biografie. Heute weiß eine Zehnjährige de facto nicht, wie sich ihr Leben entwickeln wird, und keiner kann ihr einen fundierten Ratschlag geben. Wir wissen gar nicht mehr, was alles geschehen kann: Bedroht der Roboter wirklich unseren Arbeitsplatz oder schafft er Freiräume für sinnvollere Tätigkeiten? Gibt es irgendwann ein Grundeinkommen oder werden wir für das Surfen im Internet bezahlt? Sind selbstfahrende oder fliegende Autos das Ende einer erfolgreichen Industrie oder der Anfang einer Periode, die uns nutzbare Zeit ohne Stau und Stress bescheren wird? Die Herausforderung, auf die wir uns wirklich vorbereiten müssen, ist die Tatsache, dass alles rasant anders wird.

Wir wissen, Technologie wird einen enormen Einfluss auf unsere Arbeitswelt haben. Aber wird sich auch das menschliche Miteinander verändern?

Da unsere Zukunft ohne Zweifel von der Technik und der Digitalisierung bestimmt wird, ist es unsere Aufgabe, neue Plätze und Gelegenheiten für Gemeinschaft zu erschaffen. Vor allem, weil wir die öffentlichen Marktplätze, die jahrtausendelang zu Begegnungen geführt haben, auf Plattformen verlegt haben. Kommunikation ohne Augenkontakt, ohne Berührung, ohne emotionale Resonanz des räumlichen Miteinanders kann uns nicht verzaubern. Menschen, die allein in virtuelle Welten auswandern, also nur vor Bildschirmen kleben, werden im klassischen Sinne weder glücklich sein, noch erregt werden. Unsere Emotionalität benötigt vielfältige Sinnesreizungen, um konkrete und verlässliche Erfahrungen zu machen.

Zum Beispiel lieben und geliebt werden?

Die Liebe im physischen und psychischen Sinne wird auch in der Zukunft bleiben — solange sie sich auf der körperlichen Ebene vollzieht. Die Liebe in einem digitalen Sinne ist konkret nicht vorherzusagen. Es gibt natürlich Gedankenexperimente im Bereich der Science-Fiction! Erinnern wir uns an den Film Her mit Joaquin Phoenix, der uns ganz deutlich und nachvollziehbar erahnen lässt, wie leicht man sich in eine Computerstimme verlieben kann, wie sexuell anregend die Beziehung wirkt und wie furchtbar es anmutet, wenn diese Stimme sich von einem trennt. Auch eine digitale Simulation von Sexualität mit wirklichkeitsgetreuen Avataren und ausgeklügelter virtueller Echtheit macht es sicher eines Tages möglich, eine Beziehung zu einem verstorbenen Filmstar oder einem anderen Wunschkandidaten intensiv zu leben. Vielen wird jetzt vielleicht schlecht bei diesem Gedanken. Aber eines haben wir in der Menschheitsgeschichte verlässlich gelernt: Was technisch möglich ist, wird mit größter Wahrscheinlichkeit auch umgesetzt!

Sie haben 2018 eine große Zukunftsstudie in Deutschland durchgeführt. Was kam dabei heraus?

Unsere Studie hat bewiesen, dass die meisten Deutschen an der Verlängerung der Gegenwart hängen und wenig bereit sind, die wahnsinnigen Chancen der Zukunft zu ergreifen. Uns geht es mehrheitlich so gut, dass wir uns nicht verändern wollen. Die Ahnung, dass wir uns verändern müssen, erfüllt uns mit Stress, Angst, und wir reagieren mit Abwehr. Das Resultat dieses Sicherheitswahns sind drastisch steigende psychische Erkrankungen, berufliche Fehlzeiten und unternehmerische Mutlosigkeit. Die Tatsache, dass in Deutschland die Digitalisierung als Prozess noch als Zukunftsthema behandelt wird, zeigt, wie weit wir schon ins Hintertreffen geraten sind. Das ist in China, besonders in Shanghai, vollkommen anders. Dort weiß man genau, das Bessere wird noch kommen. Die Zukunft wird als Verheißung begriffen, und insofern herrschen Mut, Energie, Stolz und auch Gelassenheit. Die Menschen scheinen der Zukunft mehr zu trauen, statt sie wie hierzulande anzuzweifeln.

In was für einem Land werden wir also in nächster Zeit leben?

Für mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gilt: Wir leben in einem fantastischen Land mit unglaublichen Möglichkeiten. Das ist außergewöhnlich gut und kaum zu toppen. Aber aus der Perspektive derjenigen, denen es nicht gut geht, ist dieses Werturteil belanglos, bedeutungslos, ja geradezu eine Unverschämtheit. Denn sie werden nicht von den Möglichkeiten profitieren. Schon jetzt finden wir in Deutschland viel mehr positive, kritische und ablehnende Einstellungen, als es Parteien gibt. Die individuelle Einschätzung orientiert sich an der persönlichen Haltung und den persönlichen Lebensumständen. Wie werden wir also leben? Dazu bedarf es dringend einer Vision, die auch die unterschiedlichen und gegensätzlichen Meinungen unter einem Dach zu vereinen vermag. Was die Politik betrifft — es tut mir leid —, dürfen wir derzeit keine Lösungen erwarten. Das müssen wir selbst in die Hand nehmen.


Interview: Marc Oliver Rühle
Fotos: Marc Oliver Rühle
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